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«Dann musst du den Spielern zeigen, dass auch du ein Mensch bist und kein Pfosten»
Alain Bieri, 44, hat bis Ende des letzten Jahres 230 Partien in der Super League gepfiffen und ist heute als Schiedsrichter-Coach tätig. Hier schaut er zurück auf die heikelsten Stunden seiner Karriere und spricht über Dilemmas im Strafraum, Fokuswechsel in der Ausbildung und die Fingerspitzengefühle des VAR.
«23. Februar 2020, das letzte Spiel vor dem Corona-Abbruch, FC St. Gallen gegen YB, Zweiter gegen Erster, fast 20'000 Leute sind im Stadion. Es läuft die Nachspielzeit, 3:2 für St. Gallen, viele Tore, grosse Emotionen, ein tolles Spiel. Wir Schiedsrichter haben unseren Teil beigetragen, für mich ist es eine der besten Saisonleistungen. Auch im Nachhinein betrachtet.
Aber dann trifft der Ball im Strafraum die Hand eines St. Gallers, und die Dinge geraten ausser Kontrolle. Ich übersehe das Handspiel – mein Fehler –, doch der Video Assistant Referee (VAR) meldet sich: Penalty für YB. Und YB vergibt. Das Stadion in Ekstase. Doch wieder meldet sich der VAR in meinem Ohr, der Torhüter habe die Torlinie verlassen, die Abwehr sei irregulär. Ich entscheide ohne Emotionen, mache meinen Job, funktioniere einfach: Mir bleibt ja auch keine Wahl, ich muss den Elfmeter wiederholen lassen. Nun treffen die Berner, mittlerweile läuft die 99. Minute, das Spiel endet 3:3, und St. Gallen dreht durch.
Ich werde von Spielern und Funktionären belagert und beschimpft. Die Fans auf den Rängen toben. Danach erkläre ich die Situation in einem TV-Interview, auf Mundart. Mein Berndeutsch befeuert die Theorien der wütenden Ostschweizer – das war nicht clever von mir, hochdeutsch wäre neutraler gewesen. Irgendjemand macht noch am gleichen Abend meine Handynummer ausfindig und stellt sie in ein Fanforum der St. Galler, es folgt Telefonterror die ganze Nacht und eine tagelange Nachrichten-Flut mit Gewaltdrohungen. Nach einer Woche flacht der Sturm ab.
Die beschriebene Schlussphase im Video.
Ja, das tut weh. Und natürlich fühlt man sich ungerecht behandelt, zumal ich in diesem Fall und Spiel ja nichts falsch gemacht hatte – ausser, dass ich das Hands für YB nicht gesehen hatte, aber das war ja zum Vorteil von St. Gallen. Dein Name nimmt Schaden, auch innerhalb der Schiri-Zunft. Weil jeder weiss, das war der Bieri damals bei diesem Riesentheater in St. Gallen. Nicht falsch verstehen: Ich habe wie alle Menschen und Schiedsrichter immer wieder Fehler gemacht, nur eben nicht in diesem Spiel.
Später, als ich wieder für ein Spiel des FC St. Gallen aufgeboten war, braute sich der Sturm von Neuem zusammen. Wieder wurde ich bedroht, die Botschaft war klar: Wenn du heute wieder Seich pfeifst, knallts. Irgendwann merkte ich: Ich will mich dem nicht mehr aussetzen. Und ich könnte keine Spiele des FC St. Gallen mehr leiten, ohne taktisch zu denken – im Sinn von: Kann ich so entscheiden oder droht mir dann wieder Ungemach? Ich lief also Gefahr, aus Selbstschutz zugunsten der St. Galler zu pfeifen. Also entschied ich, keine Spiele des FC St. Gallen mehr zu leiten.
Es ist eine Episode, die sich in ähnlicher Form immer wieder zuträgt auf den Feldern des Schweizer Fussballs. Es ist auch eine Episode, die exemplarisch für gewisse Herausforderungen und Entwicklungen steht. Emotionen, schöne wie schwierige, spielen dabei eine grosse Rolle. Der VAR ebenso. Hier einige Gedanken zu einigen dieser Themen.
Die Unparteilichkeit
Es ist der Ur-Vorwurf an alle Schiedsrichter. Dass sie gegen die eigene Mannschaft pfeifen. Die Wahrheit ist: Das ist komplett unvorstellbar. Ein Schiedsrichter hat seine eigene Karriere und Reputation. Die Konkurrenz ist gross und es braucht viel, um die höchste Liga zu erreichen. Wie die Teams wollen auch wir europäisch spielen, arbeiten hart, um unsere Ziele zu erreichen. Ja, ich bin aus dem Kanton Bern, aber als Kind hatte ich nicht für YB, sondern eine andere Schweizer Mannschaft Sympathien. Auch eine, die ich manchmal arbitrierte. Aber diese Brille habe ich abgelegt, als ich als Schiri anfing. Das geschieht völlig problemlos – wir haben im Spiel einfach eine ganz andere Brille an als die Fans.
Die Emotionen der Anderen
Starke Emotionen sind Teil des Sports und seiner enormen Anziehungskraft. Die Schattenseiten – unkontrollierte Ausbrüche negativer Gefühle – sind bekannt. Ich konnte den Ärger der St. Galler in der damaligen Situation verstehen. Leider nimmt es manchmal ungute Ausmasse an. Aber ich sage mir, besser diese Menschen lassen ihren Frust im Stadion ab als zuhause. Diese Sicht half auch, um es nicht an mich heranzulassen.
Im Umgang mit Emotionen von Spielern und Trainern muss ich differenzieren. Es gibt Menschen, die manchmal ihre Emotionen nicht im Griff haben. Wer dann mit einer gewissen Distanz zurückblickt und sagt, da hab ich überreagiert, und sich entschuldigt – das finde ich völlig okay, das gehört zum Leben und zum Sport. Im letzten Jahr beispielsweise pfiff ich Sion gegen Luzern, ein hochemotionales Spiel mit drei roten Karten gegen Luzern. Luzern-Verteidiger Mohamed Dräger beschwerte sich danach im TV-Interview, noch voller Emotionen, über mich. Wenige Monate später, im Rahmen meines letzten Spiels, kam er auf mich zu, lachte versöhnlich und umarmte mich.
Mühe habe ich, wenn Menschen diese Emotionen ganz bewusst und berechnend einsetzen, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Das ist unsportlich. Spieler, die dir nach jedem Pfiff nachlaufen, um zynisch zu kommentieren und Druck aufzubauen. Trainer, die nach dem Spiel im Interview die Verantwortung auf den Schiedsrichter abwälzen statt auch einmal Selbstkritik zu üben. Mit der Zeit weisst du, wer in welche der beiden Kategorien gehört.
Die eigenen Emotionen
Ich selbst bin kein emotionaler Mensch. Das hilft in vielen Situationen. Ich wurde selten nervös, konnte vieles ausblenden und mich ganz auf meine Aufgabe konzentrieren – auch wenn das Stadion kochte. Wir haben durchaus auch emotionale Typen unter den Schiedsrichtern, die haben andere Vorzüge. Als Vulkan kommst du als Schiedsrichter aber nicht weit.
Auch ich hatte diese Tage, wenn du merkst, das ist nicht mein Spiel und du verbal ständig attackiert wirst, dass du danach die Fussballschuhe in der Garderobe in eine Ecke schmeisst und fluchst: Huere Siech, was war das heute für ein Schissdräck. Manchmal ist es klug, während des Spiels deine Emotionen zu zeigen, um den Spielern zu signalisieren, dass auch du ein Mensch bist und nicht ein Pfosten, an den jeder hinseichen kann. Meine Strategie, die sich meist bewährt hat: Einem Spieler unter vier Augen zu sagen, wenn eine Grenze erreicht war, und zwar klar und deutlich: «Du nervst, ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du mich die ganze Zeit volltextest». Das dient dir auch als Ventil. Leise vor sich hinfluchen war eine andere Strategie, um im Spiel gewisse Gefühle rauszulassen. Das ist wichtig, sonst steigt die Gefahr von impulsgesteuerten Fehlentscheiden. Es bleibt aber ein Balance-Akt, denn einen Teil der Emotionen musst du unterdrücken, um deine Souveränität zu wahren.
Gegen Ende meiner Karriere, in den letzten zwei, drei Jahren, spürte ich, dass ich dünnhäutiger wurde. Ich reagierte teils empfindlich, wenn auf Kritik von Spielern, Fans und Medien auch noch interne Kritik folgte. Da habe ich auch mal zurückgegeben – und gemerkt, dass wohl die Zeit gekommen war, aufzuhören. Die Erfahrung in St. Gallen hat sicher auch ein Stück dazu beigetragen. Wobei ich in nächstes Jahr wegen der Alterslimite von 45 Jahren ohnehin hätte zurücktreten müssen. Der Rücktritt war von sehr schönen Emotionen begleitet. Nach dem Schlusspfiff an meinem letzten Spiel im Wankdorf verabschiedeten mich die Leute im Stadion mit Applaus. Das war mal etwas anderes – und sehr berührend.
Das Fingerspitzengefühl
Auch wenn das Regelbuch etwas anderes suggeriert: Es gibt kein schwarz-weiss. Als junger Schiedsrichter gehst du tendenziell strikt nach Regelbuch, ohne Rücksicht auf Stimmungen und Konstellationen, mit dem Kopf durch die Wand. Mit der Zeit lernst du, dass in gewissen Situationen gewisse Entscheide nicht vermittelbar sind – auch wenn sie regelkonform wären. Das ist das Fingerspitzengefühl und manchmal – ganz ehrlich – auch etwas Eigenschutz. Dann ahndest du vielleicht mal eine Situation, die technisch betrachtet ein Handspiel ist, nicht und nutzt bewusst einen kleinen Ermessensspielraum. Das Problem dabei: Du wirst unberechenbar. Weil du vielleicht in einer anderen Situation für das gleiche Vergehen Penalty gibst. Man steckt also schnell in einem Dilemma.
Der VAR
Ich erinnere mich an ein Spitzenspiel im Jahr 2012, FC Basel – GC, die Vor-VAR-Ära. Nach wenigen Minuten kam es zu einem Foul direkt an der Strafraumgrenze – Penalty oder Freistoss? Ich konnte in jener Situation unmöglich erkennen, ob das Foul im Strafraum oder ausserhalb war, und gab Penalty – ein reiner Bauchentscheid. Dann denkst du während des langen, restlichen Spiels schon ein paar Mal – war das jetzt korrekt? Oder bin ich morgen wieder Thema in den Zeitungen?
Ich bin sehr froh, steht uns heute der VAR zur Verfügung. In Zeiten immer höherer Spieltempi und immer grösserer Summen, um die gespielt wird, ist er eine echte Unterstützung – er verringert die Fehlerquote nachweislich und macht das Spiel fairer. Das Beispiel St. Gallen zeigt aber – wie einige Situationen in den letzten Wochen –, wie nahe Fluch und Segen liegen. Mir selbst wäre es damals nie im Leben in den Sinn gekommen, diesen Penalty wiederholen zu lassen.
Vermutlich leidet der Aspekt «Fingerspitzengefühl» etwas seit der Einführung des VAR. Wenn du auf der Landstrasse mit 86 statt 80 fährst, kann der mobile Verkehrspolizist situativ entscheiden, ob er dich büsst – bei 130 büsst er dich definitiv. Mit dem VAR hast du nun immer Radar. Im Interventionsraum Fingerspitzengefühl walten zu lassen, ist schwierig, weil du sehr konkrete Vorgaben einzuhalten hast – du kannst nicht einfach machen, was du für stimmig hältst. Ausserdem bist du räumlich vom Spiel getrennt und kannst die Stimmungen weniger gut wahrnehmen.
Die Ausbildung
Die Einführung des VAR hatte in der Schiedsrichter-Ausbildung eine grundlegende Veränderung zur Folge. Früher wurde mehr Gewicht auf das Auftreten, die Persönlichkeit, die Psychologie gelegt. Da standen Fragen im Zentrum wie: Wie behaupte ich mich, wie bin ich ein guter Verkäufer meiner Entscheide? Auf dem Feld wusste man ja manchmal nicht, ob ein Entscheid tatsächlich korrekt war.
Heute können wir in der Ausbildung den Fokus auf das Fussball- und technische Regelverständnis legen – die Schiedsrichter müssen dank dem VAR ihre Entscheide ja nicht mehr verkaufen. Dafür sollen sie bessere Entscheide treffen. Natürlich bereiten wir die Schiedsrichter in der Ausbildung weiterhin auch auf psychologischer Ebene auf den Druck vor, dem sie ausgesetzt werden. Es ist einfach ein Fokuswechsel: Mehr Sachverständnis, weniger Persönlichkeitsausbildung.
Für mich bedeutet das keine Degradierung des Schiedsrichters. Es ist mindestens ebenso herausfordernd, beim heutigen Spieltempo technisch den richtigen Entscheid zu treffen als irgendeinen Entscheid zu treffen und diesen dann gut zu verkaufen. Und spätestens beim Betrachten der TV-Bilder sollte der Entscheid dann wirklich richtig sein.
Die Regeln
Persönlich erachte ich die aktuellen Regeln teilweise als problematisch. Beispiel Hands – hat man da etwas auf eine Weise geregelt, das in der Fussball-Community – Spieler, Trainer, Clubs – so gar niemand will? Oder hat man es dieser Community einfach zu wenig gut erklärt? Das sind Fragen, die sich jene stellen müssen, die die Regeln machen. Die Schiedsrichter und der VAR führen ja nur aus.
Der Respekt
Aus der Community heraus müsste auch der Anstoss kommen, falls man einen Kulturwandel im Umgang mit Schiedsrichterentscheidungen wünscht. Dass man aufhört mit der Rudelbildung – und den Schwalben. Beides bedeutet für die Schiedsrichter zusätzliche Herausforderungen. Wenn wir gute Schiedsrichterleistungen wollen, sollten wir diesen mit Respekt begegnen. Ein solcher Wandel kann aber nicht top-down passieren, indem die Regelhüter den Schiedsrichtern einfach mehr Macht geben und etwa bestimmen, dass Schwalben fortan mit Rot bestraft werden – damit würde die Hemmschwelle, eine solche zu zücken, enorm steigen – womit man die Schiedsrichter letztlich noch stärker exponiert. Nein, dieser Wunsch zur Veränderung muss von der Fussball-Community selbst kommen. Und dann zusammen mit dieser entwickelt werden.»
Aufgezeichnet von Pierre Hagmann, Medienteam Swiss Olympic
Ab Juli zurück in der Super League
Alain Bieri, 44, arbeitet heute als Leiter People & Culture bei ISS Schweiz im Facility Management und führt in dieser Position 20 Mitarbeitende. Im Schweizerischen Fussballverband ist er weiterhin als Schiedsrichter-Coach tätig – aktuell auf Stufe Promotion League & 1. Liga, da das Reglement nach dem Ende der Aktivkarriere eine Pause vor 6 Monaten für Schiedsrichter-Ausbildungstätigkeiten im Profifussball vorsieht. Ab 1. Juli wird Bieri als Schiedsrichter-Coach in der Super League und bei der Uefa wirken. Der Berner Oberländer war Ende 2022 nach über 15 Jahren und 230 Einsätzen in der Super League – ein Rekordwert – als Schiedsrichter zurückgetreten. Hinzu kommen weit über 100 Einsätze in ganz Europa. Für seine Tätigkeit als Schiedsrichter war Alain Bieri in den letzten Jahren in einem Pensum von 40 Prozent beim Fussballverband angestellt, daneben arbeitete in einer HR-Kaderposition bei der Migros Aare.
Ungefiltert – Geschichten aus dem Schweizer Sport
Offen gesagt: Im Blog «Ungefiltert» erzählen Persönlichkeiten aus dem Schweizer Sport in eigenen Worten von aussergewöhnlichen Momenten und prägenden Erfahrungen. Von Siegen und Niederlagen, im Leben und im Sport. Wir freuen uns über Inputs für gute Geschichten, gerne auch die eigene: media@swissolympic.ch