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28.
Dezember
2022
Fotograf: Rémy Steinegger

Das war das Sportjahr 2022

Ein Rückblick in zehn Punkten mit Matthias Kyburz

2022 geht zu Ende. Kontroverse Grossanlässe, der Rücktritt eines Weltstars, viele Medaillen und noch mehr Meldungen bei der neuen Ethik-Meldestelle: Was bleibt von diesem Sportjahr? Matthias Kyburz, Weltmeister im OL und Co-Präsident der Athletenkommission von Swiss Olympic, nimmt in persönlichen Worten Stellung zu Themen, die das Sportjahr geprägt haben – und verrät, was für ihn der schönste Sportmoment des Jahres war.

1. Die Schweiz und die Weltspitze

«Wir sind konkurrenzfähig, auch an der Weltspitze – aber nicht flächendeckend. 15 Schweizer Medaillen an den Olympischen Spielen in Peking sorgten für einen Traumstart ins Jahr. Wobei man differenzieren muss. Der Erfolg konzentrierte sich auf Ski alpin. Da passte alles, fast jedes Rennen eine Medaille. In anderen Sportarten, auch unter dem Dach von Swiss Ski oder im Bob beispielsweise, haben wir sicher noch Potenzial – und fehlt aktuell der Anschluss an die Weltspitze. Das gilt auch für die Sommersportarten. In der Leichtathletik und im Radsport sind wir erfreulicherweise stark im Aufschwung. Andernorts hinken wir hinterher. Was nachvollziehbar ist, wir haben keinen unerschöpflichen Nachwuchs. Die Sportarten mit der grössten Strahlkraft absorbieren viel von diesem limitierten Nachwuchs. Um in anderen Sportarten wie etwa Skispringen zwischendurch an die Weltspitze zu gelangen, sind wir auf absolute Ausnahmentalente angewiesen. Sehr positiv ist, dass wir für diese gerüstet sind: Ich höre von Trainern und Trainerinnen immer wieder, dass wir in den meisten Verbänden und Vereinen fähig sind, diesen Supertalenten die nötigen Rahmenbedingungen und die Förderung zu bieten, damit diese ihr enormes Potenzial ausschöpfen können und nicht ausgebremst werden.»

2. Die Nati an der Fussball-WM

«Wie für den Sport allgemein, gilt auch im Fussball: Die Schweiz ist ein kleines Land und der Weg an die Weltspitze sehr weit. War das Abschneiden der Nati ein Erfolg? Ich habe gemischte Gefühle. An einer Weltmeisterschaft eine Gruppenphase zu überstehen, sich für die K.O.-Phase zu qualifizieren, ist nie ein Selbstläufer, sondern eine wirklich grosse Leistung. Jede Spitzensportlerin, jeder Sportler weiss das. Auf der anderen Seite spielt in der Bilanz die Erwartungshaltung mit. Diese hat die Schweizer Nati selbst hochgeschraubt, einerseits mit tollen Leistungen, anderseits auch mit eher lauten Tönen. Wer sagt, uns stehen wirklich alle Türen offen, der wird daran gemessen. Das selbstsichere Auftreten eines Granit Xhakas etwa ist teilweise erfrischend, aber es ist ein schmaler Grat. Am Ende stehen das deutliche Scheitern gegen Portugal und ein Déjà-vu: Man hatte den Eindruck, dass sich das Team gegen Serbien etwas stark aufgerieben hat und ihm dann die mentale Spannung für den Achtelfinal fehlte.»

Die Schweizer Nati an der WM in Katar: Ein Team für grosse Momente?

Die Schweizer Nati an der WM in Katar: Ein Team für grosse Momente?

3. Olympische Spiele in Peking und Fussball-WM in Katar – umstrittene Grossanlässe

«Spätestens die WM in Katar hat gezeigt: Sport und Politik sind nicht zu trennen. Das muss man akzeptieren. Der Sport trägt auch Verantwortung. Unter anderem für Entscheide wie jenen, eine Fussball-WM nach Katar zu vergeben. Oder die Winterspiele nach Peking. Von diesen Spielen bleiben unter anderem Bilder von weissen Streifen in braunem, trockenem Gelände, von Skirennen also, die nicht dort stattfinden, wo sie natürlicherweise stattfinden sollten. Es ist richtig, dass auf Missstände hingewiesen wird. Doch ich bin auch der Meinung, dass der Sport aktuell für sehr viele gesellschaftliche Entwicklungen den Kopf hinhalten und sich rechtfertigen muss. Aus meiner Sicht wird vielleicht etwas viel über den Sport ausgetragen. Aber wir hatten jetzt im Kontext von Grossanlässen zu viele negative Bilder und Schlagzeilen. Der Gigantismus, die Kosten, das exakte Gegenteil ökologischer, ökonomischer und sozialer Nachhaltigkeit. Der internationale OL-Verband etwa hat sich in seiner neuen Strategie vom bisherigen Ziel, olympisch zu werden, abgewendet. Weil die Werte, die an Olympischen Spielen vermittelt wurden, nicht mehr den eigenen entsprechen. Als Orientierungsläufer finde ich das aus Wertesicht sehr bereichernd. Es braucht ein Umdenken. Ich habe die Hoffnung, dass mit dem Jahr 2022 eine Ära langsam zu Ende geht – und dass mit kommenden Austragungsorten wie Paris und Mailand/Cortina eine Art Neuanfang gelingt. Die European Championships dieses Jahr in München haben gezeigt, wie es auch sein kann. Ein Leuchtturm-Beispiel, an dem wir uns orientieren müssen.»

Skifahrer Thomas Pfyl an den Paralympics auf der künstlich beschneiten Piste in Yanqing (China)

Skifahrer Thomas Pfyl an den Paralympics auf der künstlich beschneiten Piste in Yanqing (China)

4. Das Athletenleben Post-Corona

«Verglichen mit dem verlorenen Jahr 2020 und dem schwierigen 2021 verlief 2022 praktisch normal. Mir ist keine Sportart bekannt, die ihre Saison nicht mehr oder weniger regulär durchführen konnte. Doch Sars-Cov-2 hängt als Damoklesschwert weiter über dem einzelnen Athleten – eine Infektion kann jederzeit einen wichtigen Wettkampf oder deine ganze Saison vermasseln. Mich selbst hat es kurz vor der EM wieder erwischt, diese ging dann in die Hosen.

Einzelschicksale hat es auch 2022 gegeben, aber als System hat der Schweizer Sport diese monumentale Krise gut überstanden – weil er schnell Lösungen gefunden hat, innovativ war und auf Unterstützungsgelder vom Bund zählen konnte. Diese waren matchentscheidend.»

5. Die Energielage

«Ich dusche nicht kalt, noch nicht. Kürzlich bin ich auf den Gurten, den Berner Hausberg gerannt. Es war dunkel, ich blickte auf die Stadt herab, die flächendeckend hell erleuchtet war, und dachte: Von Energiekriese ist noch nichts zu sehen… Bis jetzt erlebt der Sport keine spürbaren Konsequenzen. Wer weiss, wie das im Frühjahr aussieht. Das eine sind die möglichen Einschränkungen wie geschlossene Hallenbäder oder Eishallen. Das andere die Kosten, die auf die Vereine oder Veranstalter zukommen könnten. Hier müssen wir unseren Teil beitragen, indem wir sparsam mit Strom umgehen.»

6. Der Ukraine-Krieg und der Ausschluss von russischen Athletinnen und Athleten

«Der Ausschluss ist ein harter Entscheid, aber ich unterstütze ihn. Gerade wenn ich sehe und höre, wie etliche dieser russischen Athletinnen und Athleten die Putin-Propaganda auf Social Media vollmundig weiterverbreiten. Auch russische Verbände machen bei dieser Rhetorik mit. Man müsste in der aktuellen Situation auch die russischen Funktionäre vom internationalen Sport ausschliessen. Diese nehmen ihre angebliche Vermittlerrolle nicht wahr, im Gegenteil.»

Starkes Zeichen: Geflüchtete ukrainische Nachwuchsathletin trainiert mit dem Swiss Cycling Team in Grenchen

Starkes Zeichen: Geflüchtete ukrainische Nachwuchsathletin trainiert mit dem Swiss Cycling Team in Grenchen

7. Mentale Belastungen

«Es ist eine gute Entwicklung, dass auch Spitzensportlerinnen und Spitzensportler offener über ihre psychischen Probleme sprechen. Diese Enttabuisierung hat 2022 grosse Schritte genommen. Wie eine aktuelle Studie vom Bundesamt für Sport BASPO zeigt, sind vor allem verletzte Athletinnen und Athleten anfällig. Das mag jetzt nicht sonderlich überraschend klingen, aber es ist wichtig, dass wir uns dem bewusster werden. Der Spitzensport ist extrem schnelllebig. Als Athlet bist du voll integriert in ein engmaschiges Netz eines Teams, mit sozialen Kontakten und organisierten Abläufen. Nach einer Verletzung fällt dieses schlagartig weg. Und du merkst schnell: Das Rad dreht ohne dich weiter, auch die Athletenkollegen melden sich bald nicht mehr so oft. Dass Menschen mit einer gewissen Anfälligkeit da in ein Loch fallen, kann nicht erstaunen. Ich finde, hier sind Teams, Coachs und Verbände gefragt, um in solchen Situationen unterstützend zur Seite zu stehen. Teams sollten versuchen, verletzte Athletinnen und Athleten so gut wie möglich in den Trainings-Wettkampf-Betrieb einzubinden, auch wenn diese physisch nicht vor Ort sein können. Ich stelle mir vor, dass die Coachs den Input dazu liefern und das Team dann die nötigen Massnahmen umsetzt.»

“Dass Menschen mit einer gewissen Anfälligkeit da in ein Loch fallen, kann nicht erstaunen. Ich finde, hier sind Teams, Coachs und Verbände gefragt, um in solchen Situationen unterstützend zur Seite zu stehen. ”

8. Projekt «Ethik im Sport»

«Die Zeit ist reif, um ein gemeinsames Grundverständnis davon zu erarbeiten, was okay ist und was nicht. Das wurde in der Projektgruppe dieses Jahr intensiv besprochen. Am Schluss wird ein Papier stehen, dessen Umsetzung sicher zur grossen Herausforderung wird. Wer von Kulturwandel spricht, muss sich bewusst sein, wie unterschiedlich die Kultur von Sportart zu Sportart oft ist. Das macht es wahnsinnig komplex. Ich schätze, dass es in 90 Prozent der Sportarten keine Probleme gibt. Beim Rest braucht es Veränderungen. Hier hilft seit 2022 auch die Meldestelle von Swiss Sport Integrity. Sie verzeichnete im Schnitt eine Meldung im Tag. Das scheint mir viel. Der Graubereich bleibt, Spitzensport findet ausserhalb der Komfortzone statt. Aber Drill ist sicher nicht der einzige Weg. Wir dürfen keine Angst haben, dass wir mit diesem Engagement für einen wertebasierten Sport unsere Leistungsfähigkeit verlieren.»

9. Die Rücktritte von Roger Federer, Nicola Spirig und Dario Cologna

«Wieso sind die drei so populär geworden? Mit ihren einzigartigen sportlichen Leistungen, klar. Was aber auch bleibt, sind ihre Charaktere, die sie zu wahren Vorbildern gemacht haben. Gerade, wenn wir über Werte im Sport reden. Sie waren demütig im Erfolg und respektvoll in der Niederlage. Kritische, pointierte Aussagen haben wir von Federer, Spirig und Cologna selten gehört, aber sie haben in ihrer Brillanz und Bodenständigkeit verkörpert, was den Sport besonders wertvoll macht: dass er dazu beiträgt, Menschen in ihrer Persönlichkeit zu formen und stärken.»

“Was aber auch bleibt, sind ihre Charaktere, die sie zu wahren Vorbildern gemacht haben. Gerade, wenn wir über Werte im Sport reden. ”

10. Der schönste Sportmoment 2022

«Da können wir beim Thema bleiben. Mit einem Bild, das bleiben wird. Roger Federer, wie er Abschied nimmt in London, zusammen mit seinem ewigen Rivalen Rafael Nadel, und beide weinen. Natürlich wird Federer dem Schweizer Sport fehlen, deshalb war das gleichzeitig ein trauriger Moment. Aber die Szenen seines Abschieds hatten eine positive Wucht und berührten mich (nein, ich habe nicht geweint). Ganz persönlich der schönste Moment war, als ich an der OL-WM im K.O-Sprint als Erster auf die Zielgerade einbog und wusste: Diesen Titel nimmt mir keiner mehr.»

Emotionaler Abschied: Berührende Szenen beim Abschied von Roger Federer am Laver Cup

Emotionaler Abschied: Berührende Szenen beim Abschied von Roger Federer am Laver Cup

Sechs WM-Titel und vielseitig engagiert

Der Orientierungsläufer Matthias Kyburz, 32, stammt aus dem Fricktal und wohnt heute in Köniz bei Bern. Sein Palmares im OL umfasst unter anderem 6 WM-Titel, 5 Gesamtweltcupsiege, 7 EM- und 18 Schweizermeister-Titel. 2022 holte er WM-Gold im K.O.-Sprint in Dänemark – und gewann als erster Schweizer seit 1989 den GP von Bern. Wegen einer Fussverletzung musste er seine Saison frühzeitig beenden. Umso grösser sind nun seine Motivation und Vorfreude, um im kommenden Jahr an der Heim-WM in Flims-Laax wieder anzugreifen.
Kyburz ist zudem Co-Präsident der Athletenkommission von Swiss Olympic, welche die Interessen der Schweizer Athletinnen und Athleten gegenüber Swiss Olympic und dem Schweizer Sport allgemein wahrnimmt. Die Athletenkommission umfasst zehn Personen, die beiden Co-Präsident*innen Matthias Kyburz und Jeannine Gmelin vertreten Athletinnen und Athleten auch im Exekutivrat von Swiss Olympic. Daneben arbeitet Kyburz in einem 40%-Pensum im Bereich Nachhaltigkeit für die SBB.