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19.
April
2021

«Iss, was dir gut tut - und geniesse es!»

Die Ausdauersportlerin Sarah Frieden (27) fühlte sich immer ausgelaugt und erschöpft. Kleine Verletzungen begleiteten ihren Trainingsalltag. Dann erkannte die Duathletin, dass sie unter dem Relativen-Energiemangel-Symptom Red-S leidet. Ihr Körper erhielt zu wenig Energie. Seither isst Sarah Frieden, worauf sie Lust hat. Das Ergebnis ist erstaunlich.

«Das Symptom RED-S entsteht, wenn man über lange Zeit viel zu wenig Energie aufnimmt, im Vergleich zu dem, was man verbraucht.» So versuche ich es zu formulieren, wenn ich jemandem erklären soll, was mich als Ausdauersportlerin lange begleitet hat. 

“Seit relativ kurzer Zeit habe ich einen Namen für ein Symptom, unter dessen Auswirkungen ich lange gelitten habe. ”

Der Erklärungsbedarf besteht, denn es ist noch nicht sehr bekannt, was es mit Red-S, dem «Relativen Energiedefizit-Syndrom» auf sich hat. Vor allem im Amateur- und Halbprofibereich wissen viele nicht, was Red-S bedeutet. Bei mir ist es so, dass ich nun seit relativ kurzer Zeit einen Namen für ein Symptom habe, unter dessen Auswirkungen ich lange gelitten habe.

Sarah Frieden mit Höchstleistung im Radtraining.

Sarah Frieden mit Höchstleistung im Radtraining.

Eigentlich seit ich Ausdauersport betreibe, war ich ständig völlig ausgelaugt, müde und erschöpft. Woran das lag, wusste ich lange nicht. Aufs Essen führte ich es nicht zurück. Denn ich hatte eigentlich immer das Gefühl, genügend zu essen. Mit Blick auf die Anzahl der Mahlzeiten und der Menge, die ich zu mir nahm, mag das stimmen. Doch heute weiss ich, ich habe damals den Fokus beim Essen auf das Falsche gelegt. Was ich gegessen habe, gab meinem Körper nicht die Energie, die er gebraucht hätte. Für ihn war es definitiv nicht genug.

“Das Aussehen der Stars faszinierte mich. Ich habe mich an ihnen orientiert, wollte so schlank sein wie sie. ”

Man muss vielleicht wissen, dass ich als Jugendliche eine Essstörung entwickelt hatte. Das Aussehen der Stars faszinierte mich. Ich habe mich an ihnen orientiert, wollte so schlank sein wie sie. Mit 17 war ich so dünn, dass meine Mutter sagte, sie bringe mich in eine Klinik, wenn ich mich der Essstörung nicht von mir aus stelle. Für mich war das ein Weckruf. Ich wollte nicht in eine Klinik. Stattdessen begann ich intensiv Ausdauersport zu treiben. Rasch stellten sich die ersten Erfolge ein. Vor vier Jahren erreichte ich ein erstes grosses Ziel: Ich lief einen Marathon unter drei Stunden.

Sarah Frieden vor ein paar Jahren an einem Familienfest.

Sarah Frieden vor ein paar Jahren an einem Familienfest.

Der Sport half mir also über die akute Essstörung hinweg. Doch die Ernährung ist bekanntlich auch im Sport ein grosses Thema. Das Essen, respektive das Wie-viel-von-was-Essen, holte mich auch in dieser neuen Lebensphase ein. Trotz meinem Erfolg im Marathon merkte ich, dass es so nicht weitergehen kann. Neben der Müdigkeit kämpfte ich immer wieder mit Verletzungen.

Dabei handelte es sich zwar nie um etwas Gravierendes, doch Entzündungen und muskuläre Beschwerden sorgten dafür, dass ich nie richtig ans Limit gehen konnte. Stattdessen musste stets einen Weg finden, die Trainingsbelastung auf diese Blessuren und Beschwerden abzustimmen. Das frustrierte mich je länger je mehr.

Unterdessen hat Sarah Frieden ein unverkrampftes Verhältnis zum Essen.

Unterdessen hat Sarah Frieden ein unverkrampftes Verhältnis zum Essen.

Ich begann, mich intensiv mit der Ernährung zu beschäftigen und holte mir auch Unterstützung. Nicht immer mit Erfolg. Einmal wurde mir zu einer «high fat-, low carb-diät» geraten. Es war ein Experiment, das fehlschlug. Mein Körper vertrug den Mangel an Kohlehydraten nicht und hatte viel zu wenig Energie. Auch deshalb, weil ich genau in dieser Zeit begann auf Duathlon und Triathlon zu setzen und meinen Trainingsumfang entsprechend steigerte.

Ich merkte, wie mein Körper begann, sich abzukapseln. Quasi lehrbuchmässig schützte er die lebenswichtigen Organe, indem er diese mit der knapp vorhandenen Energie versorgte. Für den Rest des Körpers blieben dann nicht mehr genug Reserven übrig. Meine Entzündungen und Verletzungen waren eine direkte Folge.

“Wenn ich rund um die Trainingszeiten das Gefühl habe, ich bräuchte zusätzliche Energie, esse ich einen Schokoladenriegel – und zwar ohne schlechtes Gewissen.”

Den Begriff Red-S las ich zum ersten Mal Mitte letztes Jahr auf Social Media. Eine Sportlerin aus den USA sprach darüber auf ihrem Profil. Ich wusste sofort, dass ich davon betroffen bin. Und ich wusste, ich muss auf meinen Körper hören, wenn ich mich im Sport verbessern und mich besser fühlen will. Es ist jedoch kein Zufall, fand ich ausgerechnet im letzten Jahr die Kraft, die nötigen Veränderungen anzugehen. Die Absage aller Wettkämpfe 2020 nahm mir enorm viel Druck weg und gab mir den Raum, mich selbst aus diesem Teufelskreis herauszuziehen. Bereits der erste Schritt – mehr zu essen - war für mich mit meiner Geschichte nicht leicht. Doch ich sagte mir: «Das muss jetzt einfach sein!» Das Paradoxe ist, ich koche und backe eigentlich sehr gern. Allerdings war dann das Essen für mich lange kein Genuss. Seit diesem Weckruf ernähre ich mich sehr ausgewogen - ich esse aber auch mal eine Pizza oder etwas anderes, worauf ich grad Appetit habe.

Meistens sind es Mahlzeiten, die viele Kohlenhydrate enthalten, weil ich das einfach brauche. Und wenn ich rund um die Trainingszeiten das Gefühl habe, ich bräuchte zusätzliche Energie, esse ich einen Schokoladenriegel – und zwar ohne schlechtes Gewissen.  Zu Beginn musste ich diesbezüglich über meinen Schatten springen, doch es hat sich gelohnt. 

Bei diesem Sinneswandel und dieser positiven Entwicklung half mir neben der Unterstützung durch meine Mutter auch meine Trainerin Melanie Maurer. Zu ihr hatte ich zu Beginn dieser neuen Phase gewechselt. Sie sagte mir von Anfang, dass es egal sei, wenn ich zwei Kilogramm mehr Gewicht hätte. Die Hauptsache sei, dass ich gesund und leistungsfähig bin. Und so ist es auch. Dank der ausreichenden Energieaufnahme und der damit verbundenen Motivation sind meine Leistungen konstant besser geworden.

Ich konnte mich in jeder Disziplin steigern.  Interessant ist auch, dass ich fünf Kilogramm abgenommen habe, seit ich richtig esse. Ich bin überzeugt, mein Körper merkt jetzt, dass er nicht mehr sparsam mit der Energie umgehen muss und verbraucht entsprechend viel und ungehemmt.

Bis jetzt habe ich mich keiner anderen Sportlerinnen oder Sportler über Red-S ausgetauscht. Über die Ernährung wird bei uns zwar schon sehr oft gesprochen, daher gehe ich davon aus, dass Red-S grundsätzlich für viele ein Thema wäre, das auch sie betrifft. Und zwar nicht nur ausschliesslich Frauen, sondern – wenn auch in geringerem Ausmass – auch Männer.  Manchmal sehe ich einer Athletin auch an, dass sie wohl von Red-S betroffen ist. Man kann das ja aber dann nicht einfach so von sich aus ansprechen. Ich habe jedoch kürzlich meine Geschichte in einem Beitrag auf Instagram erzählt und zahlreiche Reaktionen erhalten. Das zeigt mir, dass das Problem grösser ist, als man denkt, und es tut mir weh für alle, die darunter leiden.

Ich bin sehr gern bereit, meinen Beitrag zu leisten und meine Erfahrungen zu teilen, wenn ich damit jemandem helfen kann. Meine erste Botschaft dabei wäre: «Iss, was dir gut tut - und geniesse es!»

Heute hört Sarah Frieden auf ihren Körper und ist entsprechend leistungsfähig.

Heute hört Sarah Frieden auf ihren Körper und ist entsprechend leistungsfähig.

Sarah Frieden, 27, gehört seit dem vergangenen Jahr zum Duathlon-Sichtungskader. Ihr nächstes grosses Ziel ist die Weltmeisterschaft über die Langdistanz, die Ende September 2021 in Zofingen vorgesehen ist. Sarah Frieden trainiert bis zu 16 Stunden pro Woche, daneben arbeitet sie in einem 80%-Pensum in einer Liegenschaftsverwaltung. Sie lebt ihn Schönbühl.

Erklärung Red-S

Beim RED-S (Abkürzung für Relatives Energiedefizit-Syndrom oder auch Relatives Energiedefizit im Sport) führt ein wiederholt vorhandenes Energiedefizit (Energieaufnahme deckt den GesamtEnergieverbrauch nicht) zu hormonellen Störungen, die eine Leistungseinbusse im Sport, Knochendichteminderung und weitere gesundheitliche Probleme zur Folge haben können.

Frau + Spitzensport
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