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Spitzensport als Mutter: «Es ist möglich, aber es ist schwer»
Für die Biathletin Selina Gasparin (36) stand immer fest, dass sie ihre Karriere als Spitzensportlerin nach der Geburt ihrer Töchter fortsetzen würde. Heute sagt sie, dass dieses Thema noch viel zu wenig erforscht und diskutiert werde: «Es gibt da eine Hemmschwelle.» Die Bündnerin wünscht sich, dass die Erfahrungen, die sie und andere Spitzensportlerinnen mit Kindern gemacht haben, erfasst und wissenschaftlich aufbereitet werden.
«Wie ich mich im ersten Training, ein paar Wochen nach der Geburt meiner Tochter Leila im Februar 2015, fühlte? Schlimmer als die grösste Anfängerin! Das Gewebe war weich, ich hatte Übergewicht und war übermüdet. Ich konnte keine zehn Minuten joggen. Das Körpergefühl war völlig anders als nach Verletzungspausen. Schliesslich hatte ich bei der Geburt von Leila viel Blut verloren.
Dennoch bestritt ich wenige Monate später, im November 2015, mein erstes Weltcuprennen als Mutter. Die Sinnfrage, ob sich ein solcher Aufwand lohnt, stellte sich für mich nie. Als ich schwanger wurde, war mir immer klar, dass ich meine Karriere als Biathletin auch als Mutter fortsetzen will. Aber ja, ich gebe zu, ganz ursprünglich hatte ich einen anderen Plan: Dieser sah vor, meine Karriere 2014 zu beenden.
Doch dann kam das Rennen an den Olympischen Spielen in Sotschi im Februar 2014, in dem ich Silber gewann. Es war die erste Olympiamedaille für den Schweizer Biathlonsport. Nach diesem Erfolg wollte ich meine Karriere noch nicht beenden.
An der Familienplanung hielten mein Mann und ich aber fest. Wir diskutierten deshalb, wie das Betreuungsmodell aussehen könnte, wenn wir ein Kind haben würden. Da mein Mann als Langläufer ebenfalls im Weltcup unterwegs ist, war das nicht ganz einfach. Auch weil für uns beide klar war, dass unser Kind nicht in erster Linie bei den Grosseltern aufwachsen sollte.
Wir sind dann darauf gekommen, eine Nanny zu engagieren, die sich bei uns zuhause in Graubünden um das Kind kümmert – jeweils zusammen mit dem oder der von uns, die/der nicht an einem Wettkampf im Einsatz steht. Für uns hat sich dieses Modell bewährt. Es funktioniert auch, seit im Oktober 2018 unsere zweite Tochter Kiana zur Welt gekommen ist.
Unsere Nanny ist ein Glücksfall. Sie ist 50 Jahre alt, hat zwei erwachsene Kinder, ist entsprechend erfahren und unterdessen seit fünf Jahren an unserer Seite. Für die Mädchen ist sie eine wichtige Bezugsperson und packt neben der Kinderbetreuung in unserem Alltag mit an. Wir sind ein perfekt eingespieltes Team.
Es ist eine einzigartige Situation, in der unsere Familie lebt. Und ich bin froh, funktioniert unser Weg so gut. Geholfen hat mir die Gewissheit, dass ich es verkraften würde, wenn mein Plan warum auch immer nicht aufginge und ich meine Karriere als Leistungssportlerin nicht fortsetzen könnte. Es gibt so viele Faktoren, die zusammenpassen müssen!
Und nicht alle hätten es so gemacht. Als ich einem Trainer nach der Olympiasaison von meiner Familienplanung erzählte, sagte er: «Mach doch jetzt einfach noch zwei Jahre weiter, dann beendest du deine Karriere und bekommst Kinder.» Es ist eine Aussage, die ein Mann nie zu hören bekommt...
Doch ich liess nicht von meinem Vorhaben ab. Ich brauchte diese Herausforderung zu diesem Zeitpunkt. Und glücklicherweise erzielte ich nach den ersten Trainings, die schrecklich waren, rasch grosse Fortschritte. Bereits im August waren meine Werte bei der Leistungsdiagnostik in Magglingen top, und ich hatte da noch genug Zeit, um bis zum Saisonstart im November in Wettkampfform zu kommen.
Entscheidend war auch, dass ich stets auf den Support meiner Arbeitgeberin, meines Hauptsponsors und meines Verbands zählen konnte. Bei Swiss-Ski konnte ich durch Schwangerschaft und Mutterschaftsurlaub hindurch meinen Status im Nationalkader behalten, so wie das bei Verletzungspausen der Fall wäre. Damit erhielt ich nach meiner Rückkehr die gewohnten Leistungen.
Auch bei der Firma Roland, die mich schon so lange als Sponsorin unterstützt, wurde die Vertragsverlängerung mit mir nicht in Frage gestellt. Ich kann mir gut vorstellen, dass ich als Spitzensportlerin und Mutter für eine solche Traditionsfirma interessant bin. Meine Anstellung als Grenzwächterin bei der Eidgenössischen Zollverwaltung konnte ich ebenfalls beibehalten und leiste nach wie vor jedes Jahr meine Einsätze an der Grenze.
Einen Austausch mit den wenigen anderen Biathletinnen, die auch Kinder haben, gab und gibt es hingegen kaum. Obwohl wir sonst grundsätzlich ein familiäres Verhältnis haben in der Szene, besteht in diesem Punkt eine Hemmschwelle. Letzten Endes sind wir halt doch Konkurrentinnen. Dankbar war ich während meiner Schwangerschaft für das Gespräch mit der Triathletin Nicola Spirig.
Sie hat ja nach der Geburt ihrer Kinder ebenfalls wieder ihr Top-Niveau erreicht. Ihre Ratschläge waren sehr wertvoll. So beruhigte es mich beispielsweise zu hören, dass auch Nicola nicht gleich am ersten Tag nach der Geburt wieder trainiert hat, so wie ich das bei ihr – ein bisschen übertrieben gesagt – gedacht hatte…
Ich bin jedenfalls sehr offen, meine Erkenntnisse und Erlebnisse aus meinen beiden Schwangerschaften an andere Leistungssportlerinnen weiterzugeben. Dabei wäre ich aber ehrlich und würde sagen: Spitzensport als Mutter ist möglich, aber es ist schwierig nach einer Schwangerschaft wieder in die Weltspitze zurückzukehren.
Und je nachdem würde ich einer Athletin auch raten, erst nach der Sportkarriere eine Familie zu gründen. Denn, wie bereits erwähnt: Es muss vieles zusammenpassen, dass der Plan aufgeht. Und im Gegensatz zu einem Mann, verliert die Frau im Verhältnis zur kurzen Sportlerinnenlaufbahn durch eine Schwangerschaft viel Zeit.
Ich selber fühlte mich während den Schwangerschaften und dann auf dem Weg zurück in den Spitzensport von meiner Gynäkologin und meinem Sportarzt gut betreut. Trotzdem fände ich es sehr wertvoll, wenn die Erfahrungen, die Athletinnen wie ich, wie Nicola Spirig, Simone Niggli-Luder usw. gemacht haben, gesammelt und wissenschaftlich ausgewertet würden
Das fehlt in der Schweiz bis jetzt, und ich hoffe wirklich, dass sich jemand dieser Aufgabe annimmt. Natürlich lässt sich nicht alles vergleichen. Es kommt ja auf die Sportart und die individuelle Situation an. Die Schwangerschaft einer Spitzensportlerin und der Wiedereinstieg in den Leistungssport nach einer Geburt wären doch das ideale Thema für die Masterarbeit einer Sportwissenschaftlerin oder eines Sportwissenschaftlers!
Schweizer Biathlon-Pionierin
Selina Gasparin, geboren am 3. April 1984, debütierte 2005 im Biathlon-Weltcup und war lange die einzige Schweizer Biathletin auf diesem Niveau. Im Dezember 2013 feierte sie ihren ersten Weltcupsieg, unterdessen sind vier weitere Podestplätze im Weltcup dazugekommen. 2014 gewann Gasparin an den Olympischen Spielen in Sotschi die Silbermedaille. Mittlerweile ist sie die Teamleaderin des Schweizer Biathlon-Frauenteams, dem auch ihre beiden jüngeren Schwestern Elisa und Aita angehören. Selina Gasparin ist seit 2014 mit dem russischen Langläufer Ilja Tschernoussow verheiratet. Die beiden leben mit ihren zwei Töchtern (5 und 2) in Lantsch/Lenz im Kanton Graubünden.