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17.
Juli
2025
Foto: Imago

Time-Out Baumgartner

Die Berner Hürdenläuferin Meret Baumgartner (23) hat im Winter 2025 die Spitzensport-RS abgeschlossen und träumt von L.A. 2028, als ihr klar wird: So kann es nicht weitergehen. Sie zieht die Notbremse und beschliesst eine Pause vom Spitzensport, um ihre psychischen Verletzungen zu behandeln. Ein persönlicher Erfahrungsbericht über Hilflosigkeit in der Krise, befreiende Diagnosen und die Frage: Gibt es im Spitzensport ein Zurück nach der Auszeit?

«In Miramas geht mein Körper in den Streik. Ich bin am Einwärmen für das Hallenmeeting in Südfrankreich, es ist der 31. Januar 2025 und plötzlich merke ich: Es geht nicht mehr. Ich weiss, ich muss jetzt, aber ich fühle, es geht nicht. Meine Beine sind leer, die Gedanken rasen, es ist eine Spirale in die Blockade. Ich versuche mich zu beruhigen, schreibe meinem Coach Adi, rufe meinen Freund an, doch die bekannten Stimmen nützen nichts mehr. Ich sitze da und frage mich: Was mache ich eigentlich hier? Ich packe meine Sachen, melde mich ab, kehre ins Hotel zurück und dann in die Schweiz. Spätestens jetzt ist klar: So kann es nicht weitergehen.

“Ich überlege mir erstmals, die Karriere abzubrechen.”

Ich bin passionierte Hürdenläuferin, steht auf meiner Website. Im Moment stimmt das nicht, denn im Moment bin ich gar keine Hürdenläuferin. Ich mache eine Auszeit vom Spitzensport, denn ich muss jetzt die gesundheitlichen Hürden in meinem Leben meistern.  

Nach dem Vorfall in Frankreich versuche ich mich noch an den Schweizermeisterschaften, einmal mehr enttäusche ich mich selbst. Die Leistungen sind weit unter meinem Potenzial, ich verstehe nicht, wieso und bin ratlos. Im Training läuft es sehr gut. Doch sobald der Wettkampf kommt, geht nichts mehr. Die Freude, das Feuer – alles weg. Stattdessen: Blockaden, Selbstzweifel, Tränen. Ich überlege mir erstmals, die Karriere abzubrechen. 

Schweizermeisterschaft 2022 neben Annik Kälin. (Keystone-SDA)

Schweizermeisterschaft 2022 neben Annik Kälin. (Keystone-SDA)

Im Alltag bin ich sehr dünnhäutig und schon kleine Dinge bringen mich durcheinander. Einmal breche ich in Tränen aus, weil mein Ofengemüse nicht perfekt geraten ist. Ich realisiere: Mit mir stimmt etwas nicht. Aber was? Ich habe keine Ahnung und weiss auch nicht, wie ich das herausfinden soll. 

“Ich bin nicht einfach ,mental müde' – sondern krank. ”

Ich bin jemand, der gerne einen Plan hat. Ziele, Struktur, Trainingsrhythmus. Acht Mal pro Woche Training, das ganze Leben auf den Sport ausgerichtet. 24/7 Athletin. Alles richtet sich nach dem nächsten Wettkampf, nach dem nächsten Ziel, der nächsten persönlichen Bestzeit. Und irgendwann ist da eine grosse Leere aufgetaucht.  

Die Leere und Erschöpfung bauen sich nicht plötzlich auf. Sie kommt leise und langsam. Rückblickend sehe ich: Es ist ein Prozess über viele Monate, wohl Jahre. Ich will es lange nicht wahrhaben und habe es für mich behalten. Privat sind Dinge geschehen, die mich sehr belastet haben. Ich habe das lange unterschätzt – oder eher: runtergespielt. Eine psychische Krise sieht man nicht. Es gibt kein Gipsbein, keinen MRT-Befund. 

Unterstützung von Freundin Angelica Moser nach einem Sturz beim Saisonstart in Luxemburg, 2024. (zvg)

Unterstützung von Freundin Angelica Moser nach einem Sturz beim Saisonstart in Luxemburg, 2024. (zvg)

Ende März entscheide mich für einen Besuch bei meiner Hausärztin. Bei ihr höre ich erstmals das Wort: Depression. Eine Vermutung, die sich später beim Spezialisten bestätigen wird. Mit der Diagnose kommen sehr starke Gefühle, eine Mischung aus Erleichterung und Scham. Endlich hat das, was ich erlebe, einen Namen. Und gleichzeitig ist da dieses schwere Wort – ich habe sofort Bilder im Kopf, Vorstellungen. Ich passe da nicht rein. Ich bin doch ehrgeizig, erfolgreich, sportlich, immer unterwegs. Aber genau deshalb ist es mir wichtig, darüber zu sprechen. Ich bin nicht einfach ‹mental müde› – sondern krank. Das zu akzeptieren, ist gleichzeitig schmerzhaft und befreiend. 

Meret Baumgartner am Meeting Spitzenathletik Luzern, 2024. (zvg)

Meret Baumgartner am Meeting Spitzenathletik Luzern, 2024. (zvg)

Meine Hausärztin sagt dann auch: Mach eine Pause. Für mich gibt es bis dahin nur schwarz oder weiss, Vollgas weiter oder Aufhören mit Spitzensport. Doch sie zeigt mir eine dritte Möglichkeit: eine Auszeit. Schon beim Verlassen ihrer Praxis spüre ich: Das ist der richtige Weg. Zum ersten Mal seit Monaten fühle ich mich erleichtert. Ich muss nicht mehr funktionieren, aber auch nicht alles gleich aufgeben. Der Spitzensport bedeutet mir viel. 

“Die Olympischen Spiele in Los Angeles sind mein Fernziel. Und jetzt eine Auszeit? Ich habe ein schlechtes Gewissen. Doch es ist alternativlos.”

Es fällt mir nicht leicht, diese Entscheidung zu treffen. Ich habe gerade erst die Sportler-RS abgeschlossen und grosse Ambitionen entwickelt. Die Olympischen Spiele in Los Angeles sind mein Fernziel. Und jetzt eine Auszeit? Ich habe ein schlechtes Gewissen. Doch es ist alternativlos. Mentale Verletzungen sind wie physische Verletzungen. Sie brauchen Zeit, und sie brauchen Raum. Bei einem Bänderriss würde ja auch kein Mensch sagen: ‹Mach trotzdem weiter›. Aber beim Bänderriss sieht man die Verletzung und das System ist bereit für dich – Teamarzt, Teamphysio, Reha, et voilà. Bei einer mentalen Verletzung gibt es kein klarer Prozess oder System, das auf dich wartet. 

“Bei einem Bänderriss würde ja auch kein Mensch sagen: ,Mach trotzdem weiter'.”
«Schlechtes Gewissen»: Sportrekrutin Baumgartner, Winter 2025. (zvg)

«Schlechtes Gewissen»: Sportrekrutin Baumgartner, Winter 2025. (zvg)

Ich spreche offen mit meinem Coach Adi Rothenbühler und teile ihm mit, dass ich die Saison abbreche. Er reagiert verständnisvoll und unterstützt meinen Entscheid. Und er bietet mir an, ein Spezialprogramm zusammenzustellen, das ich ohne Druck in meiner Freizeit absolvieren könne, um weiterhin in Bewegung zu bleiben und auch damit ich ein gewisses Niveau zu halten für einen Wiedereinstieg in den Spitzensport. 

“Ich bin dankbar, dass ich offen Gespräche führen kann, dass mein Umfeld Verständnis zeigt.”

Das löst allerdings keine guten Gefühle aus, ich lehne ab – ich muss mich konsequent von allen Leistungsgedanken verabschieden, um mich neu zu sammeln. Auch das respektiert er. Überhaupt verspüre ich wenig Druck oder Widerstand von aussen, weder vor der Auszeit, noch mit diesem Entscheid. Vielleicht ist das als Einzelsportlerin einfacher, mit unterstützendem Umfeld sowieso. Ich bin dankbar, dass ich offen Gespräche führen kann, dass mein Umfeld Verständnis zeigt – mein Coach Adi, auch meine Trainingsgruppe im Nationalen Leistungszentrum von Swiss Athletics. Ich merke: Ich muss das nicht verstecken. Ich will das auch nicht. Wir beschliessen, dass meine Pause vom Spitzensport sicher bis September geht, bevor dann bald die Vorbereitungen für die Hallensaison langsam starten. Dann entscheide ich weiter. 

Offene Gespräche mit Coach Adrian Rothenbühler. (zvg)

Offene Gespräche mit Coach Adrian Rothenbühler. (zvg)

Meine Hausärztin schlägt vor, mich krankzuschreiben. Ich habe auch neben dem Sport immer gearbeitet. Das möchte ich lieber nicht unterbrechen. Die Menschen am Arbeitsplatz geben mir ein gutes Gefühl und ich kann mich hier persönlich weiterentwickeln. Daneben aber mache ich die ersten drei, vier Wochen gar nichts. Auch keinen Sport. Ich starte eine Psychotherapie. Für die Therapie suche ich bewusst jemandem ausserhalb der Sportbubble. In der Sportpsychologie schwingt immer auch der Leistungsgedanke mit. Der Gesprächsraum, den ich brauche, muss davon völlig losgelöst sein.  

Nun lerne ich, meine Gefühle zu verstehen und sortieren, und daneben ist da plötzlich viel Freizeit, für mich, für Freunde, auch mal einen Ausgang. Das hat etwas Zeit gebraucht, mich in dieser neuen Identität zu finden. Aber der Druckabfall tut mir gut, ich finde schnell wieder etwas Boden unter den Füssen und gewinne schrittweise Klarheit. Und auch der Bewegungsdrang kommt zurück. Ich mache jetzt zwei bis dreimal die Woche Sport, etwas Kraft, Pilates, ich gehe joggen, aber ohne Uhr und ohne Ziel, einfach bewegen und den Kopf lüften. Meine Freunde sagen mir auch, du siehst wieder besser aus, das ist sehr schön. Und sie überzeugen mich, beim GP Bern mitzumachen. Das sei ja easy für mich, als Spitzensportlerin, auch in Auszeit, aber sie vergessen, dass alles jenseits der 100 Meter für mich ‹hennä› anstrengend ist. 

Sport ohne Leistungsdruck: Mit Freunden am GP Bern, 2025. (zvg)

Sport ohne Leistungsdruck: Mit Freunden am GP Bern, 2025. (zvg)

An Hürden mag ich aber noch nicht denken. Wenn du im Hürdenlauf zögerlich bist, weil du mental nicht auf der Höhe bist, hast du nicht nur verloren, du riskierst auch Stürze. Und diese Stürze hallen nach. Und dann wirst du noch zögerlicher. So dreht das weiter, bis zur Blockade.  

“Ich bin erst 23, ich bin überzeugt, dass mein Körper wieder kann, wenn mein Geist wieder will. ”

Ob ich nach einer monatelangen Auszeit je wieder an mein Niveau herankäme? Ich denke schon, wenn auch nur mit einem intensiven Neuaufbau im ganzen Kraft- und Speedbereich. Aber ich bin erst 23, ich bin überzeugt, dass mein Körper wieder kann, wenn mein Geist wieder will. Aktuell habe ich weiterhin meinen Platz im Nationalkader, und dafür bin ich auch dankbar. Der Verband vergibt den Kaderstatus für jeweils zwei Jahre und unterstützt dich, wenn du eine Baisse hast oder verletzt bist. Weil ich in den letzten zwei Jahren wegen einer Verletzung und meinen mentalen Problemen selten meine Bestleistungen zeigen konnte, besteht nun aber sicher das Risiko, dass ich bald aus dem Kader falle. 

Mittlerweile arbeite ich 80% und mache interessante Erfahrungen und Entwicklungen im Berufsleben, an manchen Tage vermisse ich den Leistungssport aber sehr. Diese Intensität, wie ich sie beim U23-Schweizermeistertitel erlebt habe oder bei meinem persönlichen Rekord von 8,08 Sekunden über 60m Hürden in St. Gallen oder bei den World University Games in China, diese Intensität ist einzigartig. Dabei war die Leichtathletik für mich nie ein bewusster Karriereplan. Ich rutschte eher aus Zufall hinein, aus Spass mit Freundinnen – und plötzlich war da eine Perspektive, ein Potenzial, und darauf entstand ein wunderbares Kapitel. 

Persönliche Bestzeit im Februar 2023: Grosse Freude über 8:08 Sekunden über 60m Hürden an der Schweizer Hallenmeisterschaft in St. Gallen, hier zusammen mit Ditaji Kambundji. (Keystone-SDA)

Persönliche Bestzeit im Februar 2023: Grosse Freude über 8:08 Sekunden über 60m Hürden an der Schweizer Hallenmeisterschaft in St. Gallen, hier zusammen mit Ditaji Kambundji. (Keystone-SDA)

“Etwas Tempo rausnehmen kann genau richtige Weg sein.”

Der Sport gibt dir soviel, und meine Geschichte ist kein Plädoyer gegen den Spitzensport, sondern ein Plädoyer, rechtzeitig auf sich selbst zu hören. Ich habe viel zu lange gewartet und zu spät reagiert, als die emotionale Leere total war. Es kommt immer gleich der nächste Wettkampf, das nächste Ziel, das nächste Training, Innehalten ist nicht vorgesehen in diesem System. Aber etwas Tempo rausnehmen kann genau richtige Weg sein: Wenn ich zurückblicke, realisiere ich, dass ich meine Bestleistungen erzielte, als der Sport nicht alles war. Vielleicht muss es gar nicht 8- oder 9-mal Training pro Woche sein. Weniger ist manchmal mehr, das nehme ich mit, egal wie es weitergeht. Geht es weiter mit Meret, der passionierten Hürdenläuferin? Ich habe noch keine Antwort auf diese Frage. Jetzt erstmal meine Verletzung richtig auskurieren.» 

Aufgezeichnet von Pierre Hagmann, Medienteam Swiss Olympic 

Ungefiltert – Geschichten aus dem Schweizer Sport 

Offen gesagt: Im Blog «Ungefiltert» erzählen Persönlichkeiten aus dem Schweizer Sport in eigenen Worten von aussergewöhnlichen Momenten und prägenden Erfahrungen. Von Siegen und Niederlagen, im Leben und im Sport. Wir freuen uns über Inputs für gute Geschichten, gerne auch die eigene: media@swissolympic.ch